In unserer gegenwärtigen Zeit mit ihrer überbordenden Kultur des Visuellen und ihren neuen bildgenerierenden Medien werden in der Kunst figurative wie abstrakte Tendenzen auf ihre spezifische Potenzialität ausgelotet und ihre Authentizität und Tradition befragt. Mit ihren vielfältigen Rückgriffen auf unterschiedliche Zeiten und Kulturen, den mannigfaltigen Strategien der Kontextualisierung und dem Aufbau vielschichtiger Referenzsysteme begegnet uns das Zeitgenössische so als offene und atemporale Ausdrucksform. Die aus China stammende Künstlerin Yun Wang ist ursprünglich nach Wien gekommen, um am Konservatorium Operngesang zu studieren. In der Stadt der Künste hat sie sich jedoch der Malerei zugewandt und bei Daniel Richter in der Klasse „Erweiterter malerischer Raum“ ihr Studium abgeschlossen. In ihrer Malerei finden sich Anleihen an die traditionelle chinesische Kunst genauso wie an die westliche Nachkriegsavantgarde, trifft fernöstliches Gedankengut auf abendländische Philosophie. Die chinesische Tuschzeichnung mit ihren fließenden Übergängen und abstrakt-kürzelhaften Setzungen und die wolkigen Räume der Landschaftsmalerei werden gleichsam abstrahiert und zu flotierenden und pulsierenden Bildräumen transformiert. Yun Wang hat eine Technik entwickelt, mit Ölfarbe lasierend zu malen und so das Fließen der chinesischen Tuschzeichnung in die Malerei zu übertragen. In ihrem zwischen Intuition und Erfahrung, Zufall und Kalkül oszillierenden Malprozess legt sie Farbschicht über Farbschicht, evoziert durch ihre feinfühlige Gestik eine vibrierende Dynamik und schafft ein „Floaten“ des Bildraums wie Robert Fleck das genannt hat. Diese verdichteten Gemälde entnimmt sie mitunter dem Keilrahmen, faltet und zerknüllt sie und schafft aus diesem temporären Zustand geballter Energie mittels Epoxidharz dauerhafte plastische Objekte, die zu installativen Formationen arrangiert. Die Inspiration für die gefalteten Leinwände entstammt ihrer Beschäftigung mit wissenschaftlichen Theorien über vieldimensionale Universen. Es ist jedoch nicht nur ihr naturwissenschaftliches Interesse, das ihre Kunst einfließt oder ihre Liebe zur Musik oder das Bewusstsein für ihre Herkunft, sondern ihre Arbeiten sind auch Zeugnisse der Zeit. Wir sprechen heute von einer „fluiden Gesellschaft“ oder einer „liquid modernity“ (Zygmunt Bauman) um die Auflösung der Grundfesten unseres Zusammenlebens zu beschreiben. Yun Wang transformiert die „verflüssigte Gegenwart“, die keine Form bewahren kann und weder Raum noch Zeit binden kann, in eine solide Form mit einer klaren räumlichen Ausrichtung.
Roman Grabner, 2024
Roman Grabner, 2024